Dehnen - was bringt es wirklich?

Was unterscheidet Dehnübungen von Mobilisationsübungen und von Faszientraining? Und was bringt das alles überhaupt?

Beweglichkeit – das Stiefkind von “Mutter Fitness”

Die meisten denken beim Begriff Fitness vermutlich zunächst an Kraft und somit Krafttraining. Doch neben Kraft zählen zur Fitness auch Ausdauer, Schnelligkeit, Koordination und Beweglichkeit. Um beweglich zu bleiben oder zu werden, dehnen sich etliche Hobby- und Leistungssportler ganz selbstverständlich und tun dies bereits seit Jahrzehnten, also ebenso lange, wie sie schon ins Fitness-Studio oder auf ihre Joggingrunde begeben. Doch wie sinnvoll ist das Dehnen? Wer profitiert davon und was genau sind die Effekte? Wie dehnt man richtig? Was sind die Unterschiede zwischen Dehnung und Mobilisation?

In diesem Blogpost wollen wir uns daher mal näher anschauen, was tatsächlich an gesicherten Erkenntnissen zum Thema Stretching vorliegt und was möglicherweise eher als Mythos gelten darf.

Beweglichkeit siedelt sich aus Sicht der Sportwissenschaft zwischen den beiden Dimensionen der konditionellen Fähigkeiten (wie Kraft und Ausdauer) und der koordinativen Fähigkeiten (wie z.B. Reaktions- oder Gleichgewichtsfähigkeit) an. Das heißt, in den Bereich der Beweglichkeit spielen sowohl energetische (muskuläre) als auch durch das zentrale Nervensystem geregelte Steuerungsprozesse ein.  Unter Dehnen bzw. Stretching auf Englisch werden gezielte Beweglichkeitsübungen für lokal eng begrenzte Muskelgruppen verstanden, wie beispielsweise das Stretching der Waden-, rückseitigen Oberschenkel- oder auch der Brustmuskulatur. Diese Dehnübungen werden von Sportlern teils vor, teils nach dem eigentlichen Training absolviert. Unterschieden wird in statisches (Halten einer Dehnposition) und dynamisches (wippendes, federndes) Dehnen.

Mobilisationsübungen dienen ebenfalls der Beweglichkeit, sind aber im Gegensatz zur statischen Dehnmethode dynamisch ausgeführte Übungen, die mehrere Muskelgruppen stimulieren sollen. Mobilisationsübungen werden mitunter auch als eigenständige (Mini-)Workouts durchgeführt, um einseitige Bewegungsmuster wie zum Beispiel das (Viel-)Sitzen aufzubrechen.

Solche Übungen sind zum Beispiel Ausfallschritte mit Körperdrehung, Kniebeugen (zugleich Kräftigung als auch Mobilisation) oder die sog. Inch Worm Übungen (raupenähnliche Bewegung auf allen Vieren).

 In den letzten Jahren hat zudem das sogenannte Faszientraining in das Feld der Beweglichkeitsübungen Einzug gehalten, das oftmals mit Hilfsmitteln wie der Faszienrolle, oder Hartschaum- oder Holzkugeln durchgeführt wird. Andere Übungen ähneln wiederum den klassisch dynamisch bzw. wippend ausgeführten Dehnübungen. Hierbei soll speziell das den Muskel umspannende Bindegewebe angesprochen werden.

Egal ob Stretching, Mobilisation, Faszienbehandlung – alle Übungsformen verfolgen folgende ähnliche Trainingsziele:

 

  1. Erreichen der maximal möglichen Bewegungsamplitude bzw. „full range of motion“
  2. Verletzungsprophylaxe, Vermeiden von Muskelkater
  3. Aktivierung des neuromuskulären Systems, Verbesserung der sportlichen Leistungsfähigkeit
  4. Reduktion der Regenerationszeit nach sportlicher Leistung
  5. Psychische Entspannung
Beispiel für Dehnen: Dehnübung für den Rücken mit Gymnastikringen

Rückendehnung mithilfe von Gymnastikringen

Was bedeutet geringe Beweglichkeit?

Die Beweglichkeit wird von den Muskeln, den Gelenken, dem Bindegewebe (Faszien) und auch den Nerven limitiert. Somit ist eine eingeschränkte Beweglichkeit nicht simpel durch „verkürzte Muskulatur“ zu erklären, wie oftmals einfach behauptet. Es gibt mehrere Einflussgrößen für eine Einschränkung der Bewegungsamplitude rund um ein Gelenk.

Eine eingeschränkte Beweglichkeit kann in bestimmten Muskelregionen aufgrund monotoner Bewegungsmuster entstehen. Häufig sind dies die Brustmuskulatur, der untere Rücken, der Hüftbeuger, die hintere Oberschenkelmuskulatur oder die Waden.

Hilft Stretching präventiv gegen die Entstehung von Muskelkater?

Es gibt keine Nachweise, dass Dehnübungen vor oder nach einer Trainingseinheit verhindern können. Definitiv nicht dehnen sollte man die Muskulatur, die bereits von Muskelkater geplagt ist. Muskelkater entsteht durch Mikrotraumata der muskulären Strukturen und zusätzliche Dehnung würden diese Verletzungen verschlimmern. Die beste Prävention gegen Muskelkater ist ein ausreichendes Warm-Up und die richtige Trainingsintensität.

Kann Dehnen grundsätzlich (muskulären) Verletzung vorbeugen?

Die wissenschaftliche Evidenz für die These, dass Dehnen Muskelverletzungen vorbeugt, ist nicht erbracht. Funktionelles, also beispielsweise sportartspezifisches Dehnen in dynamischer Form kann wiederum dazu beitragen, die Durchblutung der Muskulatur vorab zu erhöhen und zugleich die intra- und intermuskuläre Koordination zu verbessern. Diese Effekte dieser Form des Dehnens können durchaus Verletzungen vorbeugen, sind jedoch keine direkten Folgen eines gedehnten Muskels.

Ist dynamisches oder statisches Dehnen besser?

Im Laufe der 1980er Jahre galt das dynamische bzw. federnde Dehnen als nicht mehr angemessen. Spätere Erkenntnisse zeigten, dass statisches Dehnen wiederum eher nachteilig in der Vorbereitung für hohe Leistungen im Anschluss ist

Sollte man besser vor oder nach dem Training dehnen?

Vor schnellen und explosiven Trainingsbelastungen sollte stets eine ausreichende Erwärmung erfolgt sein. In dieser sind dynamische Dehnübungen eine sinnvolle Vorbereitung, um die folgenden Schnellkraft-Belastungen moderat einzuleiten durch kurze maximale Dehnreize. Das Warm-up sollte jedoch nicht mit den dynamischen Dehnübungen beginnen. 

Dehnen muss außerdem sportartspezifisch betrachtet werden. Bei Sportarten wie Turnen oder beim Ballett benötigt man einen maximalen Bewegungsradius (Range of Motion). Entsprechend wird hier deutlich stärker vor der Belastung gedehnt. Bei Sportarten mit hochintensiven Dehnungs-Verkürzungszyklen, wie beispielsweise Fußball, Basketball usw. kann Stretching somit vorteilhaft sein, wohingegen sich bei Sportarten mit zyklischen Bewegungsmustern wie Schwimmen, Radfahren oder Laufen Vorteile klinisch nicht belegen lassen.

 Nach dem Training können statische Dehnübungen mit moderatem Dehnreiz dabei helfen, den Muskeltonus zu senken und so die Regeneration besser einzuleiten. Die Dauer ist sehr individuell und sollte mindestens 15-20 Sekunden je Dehnübung betragen.  Nach besonders intensiven Workouts (maximale muskuläre Ermüdung) ist Dehnen eher kontraproduktiv.

Faszientraining mit der Blackroll Faszienrolle

Foamrolling als bekannteste Form des Faszientrainings

Was hat es mit dem Faszientraining auf sich?

Während lange Zeit bei mangelnder Beweglichkeit ausschließlich von der Muskellänge und Gelenken gesprochen wurde, hat seit rund 10 Jahren ein weiterer „anatomischer Player“ die Bühne betreten. Die Rede ist von den Faszien. Sie umgeben den Muskel als bindegewebige Hülle und sind seit einigen Jahren sowohl zum Forschungsgebiet als auch zum Trendobjekt im Fitness- und Leistungssport geworden. Eine Forschergruppe untersuchte im Jahr 2020 im Rahmen einer Literaturstudie die Wechselwirkung von Muskeln und Faszien bei der Dehnung. Die Wissenschaftler stellen fest, dass bei passiver Dehnung an allererster Stelle das Fasziengewebe der limitierende Faktor der Bewegung ist. Zugleich kann das Zusammenspiel von Muskeln und Faszien als eine myofasziale Einheit nicht entkoppelt voneinander durch Stretching oder Mobilisierung erreicht werden. Speziell durch sogenannte langkettige Dehnungen können die Faszien trainiert bzw. stimuliert werden.

Faszien im Trend

Suchanfragen nach dem Begriff “Faszien” in Deutschland: Starker Anstieg ab etwa 2011.

Studienlage zum Stretching noch nicht vollständig

Abschließend sollte noch erwähnt werden, dass sich die meisten Studien mit Stretching nur unter biomechanischen Gesichtspunkten beschäftigen, nicht aber beispielsweise die Effekte auf das Nervensystem berücksichtigen, oder gar die psychologischen Effekte. Insofern gibt die Studienlage bislang kein vollständiges Bild über die (positiven) Effekte des Beweglichkeitstrainings.

Quellen